24.02.19
Das Ausmaß der Zerstörung, das die Hochwasserkatastrophe in Niederbayern Anfang Juni hinterlassen hat, ist unvorstellbar. Herbert Wiedemann, Geschäftsführer vom Kreisverband Rottal-Inn des Bayerischen Roten Kreuzes, und Dieter Hauenstein, Bereichsleiter Gemeinschaften und Katastrophenschutz Niederbayern-Oberpfalz, skizzieren in "einsatzbereit." die Hilfsstrategie des BRK im Katastrophengebiet und formulieren einen Maßnahmenkatalog für die Zukunft.
Die Aufräumarbeiten in Simbach und den anderen Katastrophengebieten in der Region sind bereits sehr weit voran geschritten. Wie ist derzeit die Schadenslage?
Wiedemann:
Die Stadt Simbach und die anderen Orte Triftern, Anzenkirchen und Tann sind wieder begehbar. Jetzt werden die Häuser saniert, d.h. es werden die Verputzbereiche heruntergeschlagen und die Böden, die Türen und die Fenster entfernt. Die Wasserversorgung in Simbach ist nach wie vor noch nicht wieder vollständig hergestellt und auch bei der Stromversorgung gibt es noch Bedarf.
In den Überflutungsgebieten haben die Bereitschaften, die Wasserwacht, die Bergwacht und die Verbände vor Ort unglaubliches geleistet. Wie werden die Aufgaben bei einer Flutkatastrophe verteilt und vor Ort koordiniert?
Hauenstein:
Bei einem derart großen Schadensfall greift das bayerische Katastrophenschutzgesetz und gibt klare Strukturen vor. Der Landrat ruft den Katastrophenfall aus und richtet eine Führungsgruppe Katastrophenschutz (FüGK) im Landratsamt ein. Hier werden die Informationen der technischen Einsatzleitung und der Sanitätseinsatzleitung zusammengeführt und der Raum zentral koordiniert. Im Falle von Katastrophen dieser Größenordnung richten wir als Bayerisches Rotes Kreuz innerhalb unseres ansässigen Kreisverbandes einen Stab ein, der der Sanitätseinsatzleitung und dem Landkreis zuarbeitet. Zudem schicken wir einen Berater in die Führungsstelle des Landkreises, der die Möglichkeiten des BRK in die Einsatz-Strukturen einbringt. Sollte die Struktur vor Ort nicht mehr greifen oder das Ausmaß so groß sein, dass Ressourcen zugeführt werden müssen, wird über die nächst höhere Instanz des Bezirks- oder Landesverbandes ein Stab eingerichtet, der Einsatzkräfte an den Ort des Geschehens schickt, um zu helfen.
Die starken Regenfälle in Bayern haben zu heftigen Überschwemmungen und Gefahrensituationen geführt. Was kann man bei einer Flutkatastrophe tun, um sich und andere in Sicherheit zu bringen?
Wiedemann:
Da gibt es nur einen Weg: sichere Bereiche aufsuchen. Bei Wasser sind das immer die oberen Stockwerke. Keinesfalls in Keller, Garagen oder Senken gehen. Auch Autos sind nicht sicher. Wenn das Hochwasser einen auf der Straße überrascht, stellt man sich in den Schatten von Häusern, in den Schatten der Flutrichtung. Und wenn gar keine andere Möglichkeit besteht, klettert man auf einen Baum. Die Höhe aufsuchen: das ist die einzige sichere Empfehlung. Hauenstein: Auf gar keinen Fall im Fahrzeug sitzen bleiben. Ein Fahrzeug kann nur bis zu einer bestimmten Wassertiefe fahren. Es besteht die Gefahr, dass es stecken bleibt oder bei einer Wassertiefe von 50-60 cm zu schwimmen anfängt. Fahrzeuge also bitte sofort verlassen und versuchen, die nächste Anhöhe zu erreichen.
Das BRK hat innerhalb kürzester Zeit ein psychologisches und soziales Beratungsprogramm erarbeitet, um die Menschen bei ihrem Weg zurück in den Alltag zu unterstützen. Wie ist die Resonanz bei den Menschen vor Ort und in der Politik auf dieses Angebot?
Wiedemann:
Viele Menschen sind durch die Erlebnisse so stark traumatisiert, dass sie zu einer normalen Kontaktaufnahme gar nicht fähig sind. Die Erfolge dieser Beratung und dieser Begleitung zeigen sich daher eher still und leise. Die Menschen werden durch diese Erstkontakte erstmals wieder in eine andere Welt zurückgeholt. Das Programm ist hinsichtlich der Abarbeitung von Traumata ein großer Erfolg. Aus der Sicht der Betroffenen ist es natürlich noch ein langer Weg, in den Alltag zurückzukehren. Wenn jemand mit 80 Jahren einen Antrag ausfüllen, damit er seinen gesamten Haushalt, vielleicht sogar sein Haus ersetzt bekommt, dann ist nach so einem schrecklichen Erlebnis für den Einzelnen die Sinnhaftigkeit eines solchen bürokratischen Vorgangs nicht immer auf Anhieb herzustellen. Auch hier muss man die Menschen unterstützen.
Welche Mittel benötigt das BRK, um in Zukunft noch besser bei Umweltkatastrophen helfen zu können?
Hauenstein:
Das BRK hat bereits 2013 bei dem Hochwasser in Deggendorf festgestellt - und das hat sich jetzt wieder bewahrheitet -, dass wir unsere Technik aufrüsten müssen. Wir brauchen Fahrzeuge mit Allradantrieb, wir brauchen wattfähige Fahrzeuge, um Menschen noch effektiver retten und Räumungen durchführen zu können. Unsere jetzige Ausrüstung ist für den normalen Straßenverkehr geeignet, aber nicht einsatzfähig bei einer zerstörten Infrastruktur. Das sind Forderungen, die wir Richtung Politik bringen. Diese schnellstmöglich umzusetzen ist von höchster Dringlichkeit, da die Häufigkeit derartiger Schadenslagen steigt. Es ist nicht auszuschließen, dass Katastrophen dieses Ausmaßes durch drastische Wetterumschwünge auch an anderen Orten schon bald passieren können.
Wiedemann:
Ergänzend halten wir es auch für absolut notwendig, eine staatlich getragene Akademie der Hilfsorganisationen aufzubauen, an der außergewöhnliche Schadenslagen und Extremsituationen wie Hochwasserkatastrophen oder Terroranschläge auf Führungsebene trainiert werden. Das Ziel muss sein, überregional Kräfte zusammenführen zu können, die die spezifischen Abläufe in einem Prozess bereits kennen und geübt haben.
Hauenstein:
Simbach hat gezeigt, dass es Situationen gibt, in denen viele Menschen innerhalb kürzester Zeit kein Dach mehr über dem Kopf haben. Hier besteht Bedarf an Großfahrzeugen, die schnell Zelte für bis zu 100 Menschen abladen und aufbauen können. Unsere Aufgabe ist es, die Grundbedürfnisse der Menschen in den ersten Stunden und Tagen zu decken. Auch gilt es, Betreuungsmöglichkeiten einzurichten und die Menschen vom Geschehen abzuschirmen. Denn die Bilder, die sie hier gesehen haben, werden sie so schnell nicht vergessen können.